Pallazago und Bergamo –Grund Zero der lombardischen Corona-Katastrophe

20. September 2020 | Italien, Begegnungen

Schluss mit dolce vita: Ich nehme Kurs auf Bergamo, die Provinzhauptstadt der Lombardei. Aus Bergamo kamen im Frühjahr die schockierenden Nachrichten von Krankenhäusern, die nicht mehr wussten, wie sie die vielen Covid-Patienten versorgen sollten; von Ärzten, die entscheiden mussten, wen sie aus Mangel an Intensivbetten und Beatmungsgeräten sterben lassen müssen; Armeelastern, die Leichen abtransportierten, weil Bergamos Krematorien überfüllt waren. Fast 20.000 Tote: Nirgendwo wütete die erste Corona-Welle im Frühjahr schlimmer als in der wohlhabenden, industriellen, weltweit vernetzten Lombardei. Warum? Und wie ist die Region auf die zweite Welle vorbereitet, die unfehlbar mit dem Winter kommen wird? Ich will aus der Lombardei heraus sein, bevor die Husten- und Schnupfenzeit hier in Norditalien beginnt, darum lasse ich die lieblichen Gestade des Garda hinter mir und gebe Pallazago ins Navi ein.

Denn in diesem Dorf bei Bergamo wohnt Karin Wagner (http://karinwagner.it): Österreicherin, seit vielen Jahren in der Lombardei. Karin spricht beide Sprachen fließend, arbeitet als Übersetzerin und Vermittlerin zwischen den Kulturen. Karin hat angeboten, mir nicht nur mit Interviews in Bergamo zu helfen, sondern sie hat auch ihre Freunde zusammengetrommelt. Heute Abend gibt es auf ihrer Terrasse Pizza, Wein und Berichte über die Zeit im März und April. Als die Dörfer wie ausgestorben im Lockdown lagen, niemand ohne guten Grund auf die Straße durfte und man nur von morgens bis abends die Sirenen der Ambulanzen hörte.

Ich finde einen Parkplatz in Karins Straße, nahe des Zentrums des hübschen Bergdörfchens. Obwohl es jetzt abends schon recht kühl wird, sitzen wir wegen der Seuche draußen. Der Kulturverein von Pallazago kommt quasi geschlossen: Ein Arzt ist unter Karins Freunden und freiwillige Helfer, die im Frühjahr in den Ambulanzwagen mitgefahren sind, die schwer an Covid Erkrankte in die Kliniken brachten. Bis nach Como mussten sie fahren, um noch freie Betten zu finden, erzählt Monica: „Die Menschen hatten so furchtbare Angst, zu ersticken.“

Und der Arzt Roberto berichtet, dass er aus dem Ruhestand zurückgerufen wurde, um die Dorf-Praxis eines an Covid erkrankten Kollegen zu übernehmen. „Ich hatte nichts: Es war wie im 19. Jahrhundert“. Schutzkittel, Masken und Handschuhe musste Roberto sich selbst besorgen. Der Staat habe das Gesundheitssystem der Lombardei Jahre lang systematisch kaputtgespart, kritisiert er, während Karin unermüdlich übersetzt. Wir haben uns in einer Facebook-Gruppe für Deutschsprachige in Italien gefunden, weshalb ich gegen Mr. Zuckerbergs Datensammel-Krake kein böses Wort mehr sagen darf.

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Karin (ganz links) und ihre Freunde vom Kulturverein Pallazago

Am nächsten Morgen fahren Karin und ich nach Bergamo, wo wir uns auf dem Monumentalfriedhof mit Consuelo Locati treffen. Sie ist Anwältin von „Noi Denunceremo“ – „Wir klagen an“: Einer Organisation von Hinterbliebenen von Covid-Opfern, die die politisch Verantwortlichen zur Verantwortung ziehen wollen. Der Anblick im Friedhof schockiert: In der Provinz Bergamo sind im Frühjahr so viele Menschen an Covid gestorben, dass sie auf dem Friedhof in eigenen Gräberfeldern beigesetzt wurden, sortiert nach dem Todestag: Reihe über Reihe frische Gräber, es sind so viele, schrecklich.

„Es ist jedes Mal wie ein Stich ins Herz, hier zu stehen“, sagt Consuelo Locati. Die Provinzregierung habe den Lockdown zu spät verhängt, mit Rücksicht auf die Wirtschaft, sagt sie. Das habe tausende zusätzliche Opfer gekostet. Auch Consuelos Vater starb an Covid, allein, im Krankenhaus. Consuelo erzählt es gefasst, doch Karin muss sich abwenden, geht ein paar Schritte beiseite und weint sehr. Ich selbst habe mir vorgenommen, mich zu schützen, damit es mir nicht wieder ergeht wie in Sri Lanka nach dem Tsunami von 2004. Die Menschen erzählten mir damals die furchtbarsten Geschichten, und ich ließ alles nahe an mich heran, zu nahe: Danach war ich wochenlang krank und so richtig erholt habe ich mich davon nie.

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Consuelo Locati hört man hier:https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwi3-4r7_-HuAhWOGBQKHTxBDqcQFjAAegQIARAC&url=https%3A%2F%2Fwww.podcast.de%2Fepisode%2F502457707%2FConsuela%2BLocati%2B-%2BAnw%25C3%25A4ltin%2Bvon%2BCorona-Hinterbliebenen%2Bin%2BBergamo%2F&usg=AOvVaw1FGWvKcvBbmIX99f3g1qdB

Am nächsten Tag habe ich einen Termin bei Dr. Luca Lorini, dem Leiter der Abteilung für Intensivmedizin und Reanimation in Bergamos großem, modernen Krankenhaus Papa Giovanni XXIII. Er spricht Englisch und nimmt sich fast eine Stunde Zeit, weil er eine dringliche Botschaft hat: Nehmt das Virus ernst, meidet Kontakte: „Nobody must meet nobody!“ Bis eine Impfung möglich ist, sei das der einzige Schutz vor diesem „Killervirus“, wie er in seinen langen Jahren als Intensivmediziner noch kein Zweites gesehen habe.

Was er während seines Kampfes an der vordersten Corona-Front gefühlt habe, frage ich ihn. Das wisse er nicht, sagt Dr. Lorini: „Ich war wie ein Soldat im Krieg, ich hatte keine Zeit, etwas zu fühlen“. 14, 15, 16 Stunden im Krankenhaus, dann nach Hause, duschen, weil in dem Schutzanzug klitschnass geschwitzt, essen und ins Bett. Und am nächsten morgen wieder los in die Klinik: Über Wochen ging das so, Monate.

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Sieht müde aus: Dr. Luca Lorini kämpfte Monate lang an vorderster Corona-Front

Jetzt, im September, habe Italien die Seuche im Griff, weil seine Landsleute bis hinunter nach Neapel sehr gewissenhaft die Corona-Maßnahmen befolgten, lobt Lorini. Die Zahl der Neuinfektionen ist hier in Italien zu diesem Zeitpunkt sehr niedrig. Doch auf eine zweite Welle seien die Praxen in den Dörfern der Lombardei nicht besser vorbereitet als beim ersten Mal, sagt der Arzt. Dann hat er keine Zeit mehr: Täglich gibt er in Sachen Covid Webinare für Kollegen in aller Welt. Nach den chinesischen Ärzten hätten sie hier am Bergamo am meisten Erfahrung. Und die Chinesen rückten mit zu wenigen Informationen heraus, bemängelt Luca Lorini.

Hier geht es zum Beitrag aus Bergamo: http://www.deutschlandfunk.de/corona-in-norditalien-botschaften-aus-bergamo.795.de.html?dram:article_id=485364

Nach drei Tagen auf dem kleinen Parkplatz in Pallazago schleicht ein Anwohner um „Libertu“ herum und interessiert sich sehr für mein Kennzeichen: Zeit, das Weite zu suchen. Um Bergamo besser kennen zu lernen, will ich eine Stadtführung durch das historische Zentrum mitmachen. Den Van parke ich auf einem Wohnmobil-Stellplatz am Stadtrand. Strahlendes Spätsommerwetter: Eigentlich wimmelt es um diese Jahreszeit von ausländischen Kulturtouristen und ihren Campern, seufzt der Platzbetreiber. In diesem Corona-Herbst sind es nur eine Handvoll.

Von hier fährt eine Straßenbahn zum Hauptbahnhof, dann geht es weiter mit einem Bus in die Altstadt. Alle tragen Masken, doch das Gedränge im Bus fühlt sich trotzdem nicht gut an. Die Straße windet sich in Schleifen bergauf, denn Bergamo wurde auf sieben Hügeln erbaut, wie Rom. Die uralte Stadt ist keltischen Ursprungs, erklärt die Stadtführerin stolz.

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An vielen Balkonen hängen wie auch in den Dörfern ringsum die „Wir lieben Bergamo“-Banner aus der Horror-Coronazeit des Frühjahres. Die Schönheit der Altstadt spielte in den Berichten der Medien aus aller Welt damals keine Rolle. Doch das centro storico entzückt mit Kathedralen und Kapellen, Wohntürmen, einer trutzigen Festung, kleinen und großen Piazze, schmalen Kopfsteinpflastergassen, schönen Geschäften und einem tollen Ausblick auf die Neustadt und die alte Universität.

Denn Bergamo ist normalerweise auch eine sehr lebendige Studentenstadt, erzählt mir am nächsten Tag Luca Samotti, ein junger Kollege von „Bergamo-News“. Die kleine, lokale Onlinezeitung hatte während der ersten Corona-Welle im Frühjahr plötzlich hunderttausende Leser, berichtet Luca. Wir treffen uns draußen, im Freien, das Aufnahmegerät schraube ich auf ein Stativ.

Bergamo sei im Frühjahr dermaßen hart getroffen worden, dass nun alle sehr diszipliniert Mascherina tragen, Hände waschen, Abstand halten, sagt auch Luca. Die Italiener sind nun die Preußen Europas, stellen wir fest, während die angeblich so disziplinierten Deutschen gegen Lockdown und Maskenpflicht auf den Straßen demonstrieren.

Auf die Weigerung Deutschlands und anderer EU-Staaten angesprochen, Italien im Frühjahr mit Masken und Beatmungsgeräten auszuhelfen, bleibt Luca höflich: Deutschland habe ja immerhin später 42 Intensivpatienten aus Bergamo aufgenommen. Derweil kamen Ärzte, Masken und Schutzkleidung aus China, Russland und Kuba. „Wir hatten Hilfe“, sagt der junge Kollege sanft. Und ich möchte im Erdboden versinken.

Hier kann man Luca hören: http://www.deutschlandfunk.de/berichten-aus-dem-corona-hotspot-bergamo-sag-ihnen-einfach.2907.de.html?dram:article_id=486037

Ich mache noch einmal einen Abstecher nach Pallazago, stelle den Van diesmal auf einen Parkplatz am Friedhof, gehe mit Karin in den umliegenden Bergwäldern spazieren und abends essen. Wir werden in Kontakt bleiben, Karin wird mir noch oft helfen, auch als wenig später die zweite Corona-Welle die Lombardei wieder hart trifft und in einen zweiten Lockdown zwingt.

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Konnte beim 18. Geburtstag ihrer kleinen Schwester nicht dabei sein, die nur 200 Meter entfernt wohnt: Roberta Magri aus Codogno

Die erste Ausgangssperre im Frühjahr sei schier unerträglich gewesen, erzählt Roberta Magri in Codogno: In dem unscheinbaren Ort rund eine Stunde südlich von Bergamo wurde am 20. Februar bei einem 38jährigen Mann zum ersten Mal in Italien das Coronavirus diagnostiziert: „Patient Null“.

Diagnosing the first COVID-19 patient in Italy – Codogno, Italy (escardio.org)

Roberta sieht ihn manchmal auf der Straße: Der früher sportliche Jogger gehe nur noch sehr langsam, habe immer noch mit den Spätfolgen zu kämpfen. Codogno wurde damals abgeriegelt, die Bilder des gesperrten Verkehrskreisels vor dem Ort gingen um die Welt. Roberta hatte während des hammerharten Lockdowns Tagebuch für die „Süddeutsche Zeitung“ geführt. Deren Korrespondent in Rom, Oliver Meiler, hat mir dankenswerter Weise den Kontakt zu ihr vermittelt. Roberta schreibt an ihrem ersten Roman, ist Quentin Tarantino-Fan und spricht Englisch. Ihr graust es vor einem zweiten Lockdown: https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwiFo_u6geLuAhUGmBQKHSS7B3IQFjAAegQIAxAC&url=https%3A%2F%2Fpodcasts.apple.com%2Fal%2Fpodcast%2Froberta-magri-in-codogno-graut-es-vor-einem-zweiten%2Fid352266311%3Fi%3D1000497317732&usg=AOvVaw0HMoplf8RYpORdw4HfARR_

Wenig später steigen die Infektionszahlen auch in Italien rasant. Wieder ist die Lombardei besonders betroffen und wird erneut „Zona rossa“.

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