Nachdem mein Bruder wenige Tage vor Weihnachten abgeflogen ist, fühle ich mich ein bisschen einsam. Das passiert sehr selten, ich bin ganz gern mal mit mir allein und bin es meist ja auch gar nicht, weil ich auf meinen Reisen ständig Menschen kennen lerne. Aber sie sind mir eben nicht vertraut, so wie es mein Bruder ist oder meine engen FreundInnen sind, die ich schon viele Jahre kenne und sie mich. Die Begegnungen auf Reisen sind erst einmal flüchtig, ob etwas von Dauer daraus wird, gar eine Freundschaft, muss sich erst erweisen.
Mein zweites Weihnachten on the road verbringe ich auf dem Stellplatz bei Armacao de Pera, mit netten Leuten, aber auch enervierenden, zu nichts führenden Diskussionen mit Vertretern der erschreckend zahlreichen Corona-Schwurbler. Und weil ich noch unter Albufeira-Bausünden-Schock stehe, der tägliche Anblick der mächtigen Apartmenttürme von Armacao mich traurig macht und ein Besuch im Schatten der Hochhäuser von Portimao das Fass zum Überlaufen bringt – fliehe ich.
Zurück nach Westen, aber diesmal etwas weiter nördlich von Sagres, an die Costa Vicentina. Die wilde Westküste Portugals mit ihren endlosen Sandstränden und scheinbar unberührten Dünenlandschaften. Nicht gnadenlos zugebaut wie die Südküste der Algarve, weil gottseidank Umweltschutzregeln griffen, als der gierige Blick der Investoren auch auf diese Küste fiel. Für mich ist es darum die schönste Ecke der Algarve.
Die Praia da Bordeira liegt mitten in einem Naturpark, weit und breit kein großes Hotel, kein Hochhaus, kein Appartementblock. Nur der riesige, von einer Lagune sanft umschmeichelte Strand, die donnernden Wogen des Atlantiks, die Möwen, die Sonne, der Wind, in den sich vereinzelte Kitesurfer stemmen und ein paar Angler, die oben auf den Klippen waghalsig ihre Leinen auswerfen.
Einen Kilometer von meinem frisch gekürten Lieblingsstrand entfernt betreiben Miguel und sein Stiefvater Walter (warum er so heißt, konnte er mir nicht wirklich erklären) das Casa da Horta: Ein Hostel, das auch Mini-Restaurant, Kneipe und abendlicher Winter-Treffpunkt für das nahe liegende Dorf Carrapateira. ist. Es ist die einzige Anlaufstelle ringsum, alles andere hat im Winter zu.
Und so stehen hier langhaarige Surfer Schulter an Schulter mit ebenso wettergegerbten Fischern am Tresen und kippen zwei, drei, vier oder auch mehr „Super Bock“, während im gusseisernen Ofen ein Feuer brennt, kein Fernseher plärrt, sondern Walter seine Weltmusik-Sammlung zu Gehör bringt, an langen Holztischen Mikado gespielt wird und junge Traveler wie gebannt auf ihre Tablets starren, von ihrer Umgebung nichts mitkriegen. Die Hunde des Hauses lauern derweil auf Leckerbissen oder liegen schlafend herum. Hier kann es sich jeder nach seiner Facon gemütlich machen.
Miguels Mutter, Walters Frau, stammt aus Olhao bei Faro. Sie kocht, und alle drei sind jeden Tag von früh morgens bis spät abends im Einsatz. Miguel mag an Portugal die Vielseitigkeit, die viele Kultur und die Baudenkmäler im Norden, die Ruhe des Alentejo, das Getümmel der Touristen an der Algarve. Portugiesen sind offen für andere, meint er. Das gelte für Jung und Alt, Fremde würden freundlich empfangen. Grund sei die Vergangenheit Portugals als Handels-Nation mutmaßt Miguel.
Anders als mich bekümmern ihn die Bausünden an der Südküste nicht. Dort führen die Touristen hin, die Nightlife und Partys suchten, meint er. Die wollten das so. In seiner Freizeit spielt er Fußball mit Freunden oder geht Surfen oder Fahrradfahren. Mit der Regierung ist er unzufrieden: Geld zähle mehr als Recht und Gesetz, reiche Leute dürften mitten im Naturpark ihre Villen bauen, seine Familie aber bekämen keine Genehmigung für einen Wohnmobil-Stellplatz. Korruption sei eines der größten Probleme im Land.
Die Europäische Union habe Portugal zwar einerseits zu mehr Wachstum verholfen, andererseits aber die Korruption noch weiter angefacht: Beihilfen der EU verschwänden auf Nimmerwiedersehen in den Taschen der Politiker, meint er.
Das Covid-Problem habe die Regierung ganz gut gemanaged lobt Miguel, immerhin sei das kleine Portugal Impf-Meister Europas. Aber die Maßnahmen seien etwas chaotisch gewesen: Restaurants offen, dann wieder geschlossen, dann wurde es im Sommer besser, da sei wieder alles offen gewesen, dann stiegen die Infektionszahlen im Herbst, da hätten sie wieder zusperren müssen, ein ständiges Hin und Her. Besser wäre es gewesen, alle Restaurants konsequent zu schließen, sagt Miguel. Aber das hätten viele kleine Häuser wie das Casa da Horta nicht überlebt. Und die Leute müssten ja ihren Lebensunterhalt verdienen.
Miguel ist 27, er lebt seit vier Jahren mit seiner Freundin in einem eigenen Haus. Miguel will Kinder haben, nicht jetzt, aber später. Er macht sich aber Sorgen, dass es nicht mehr genug Wasser gibt, wenn seine Söhne und Enkel erwachsen sind: Auch in Südportugal macht sich der Klimawandel deutlich bemerkbar, in diesem Winter hat es kaum geregnet. Seinen Kindern wolle er das beste Leben bieten, das er nur irgendwie ermöglichen könne. So wie es seine Mutter für ihn getan habe. Miguels Eltern trennten sich, als er vier Jahre alt war.
Nach seinen eigenen Träumen gefragt, fällt Miguel nicht viel ein: Er sei ein geduldiger Mensch und brauche nicht viel. Einen Job, genug Geld zum Leben, Konsum mache eh nicht glücklich. Er sei glücklich, wenn er mit seinen Kumpels zusammen sei, mit seiner Freundin, sie einen ganzen Tag am Strand verbringen und abends auf eine Party gehen könnten. „Das ist Leben für mich.“
Wie so viele junge Portugiesen überlegt er, für ein paar Jahre nach Frankreich zu gehen, um in einer Fabrik zu arbeiten, ein bisschen Geld beiseitelegen zu können. In Portugal seien die Löhne so niedrig, dass man zehn, zwölf Stunden täglich schuften müsse, um über die Runden zu kommen. Es sei denn, man ist reich geboren, sagt er und lacht. Alle anderen verdienten, 600 oder 700 Euro netto. Aber eine kleine Wohnung in Portimao koste schon 500 Euro Miete: „Das ist ein großes Problem“.
Trotzdem will Miguel dann nach Portugal zurückkehren: „Natürlich, auf jeden Fall!“ Vielleicht könnte er im Sommer am Amado-Strand als Surflehrer arbeiten, überlegt er. Die Konkurrenz sei allerdings groß.
Das Wichtigste im Leben sei, mit dem zufrieden zu sein, was man hat, sagt er. Erstaunlich weise für einen 27Jährigen. Als wir fertig sind, gibt er zu, wahnsinnig aufgeregt gewesen zu sein: „Ich habe gezittert!“ Er habe nämlich noch nie im Leben ein Interview gegeben…
Das Casa da Horta ist die einzige legale Möglichkeit im Umkreis von mehreren Kilometern, an dieser zauberschönen Küste mit dem Wohnmobil zu stehen: Walter hat drei, vier Plätze für Camper, dort übernachtet man gratis, wenn man dafür bei ihm essen geht. Das immer leckere Tagesmenü kostet lächerliche sieben Euro – und er drückt mir auch gleich den Schlüssel zu einem leeren Gästezimmer im ersten Stock in die Hand, dessen Bad ich nutzen kann. Ein genialer Deal, ich parke im Innenhof und habe nach ein paar Tagen das Gefühl, schon immer hier zu sein.
Eines morgens wache ich auf und ein kleiner Van steht neben meinem: Kristina aus Berlin ist mit dem Bus eines Kumpels unterwegs. Wir funken auf derselben Wellenlänge und haben uns viel zu erzählen. Abends im Casa kommt Svea mit an unseren Tisch: Sie will Hebamme werden, hat in einem Geburtshaus in einem Slum in Ugandas Hauptstadt Kampala gearbeitet und läuft den alten Fischer-Trail hier an der Küste. Ohne Zelt, nur mit einer Plastikplane, unter der sie platt am Boden schläft. Dagegen bin ich mit einer rollenden Luxusherberge unterwegs. Es gibt echt toughe Frauen!
Ein Teil des Fisherman-Trails ist der Weg von der geliebten Praia da Bordeira zur kaum weniger schönen Praia Amado ein paar Kilometer weiter südlich. Ein Schotterweg führt entlang der Klippen, Holzbohlenstege locken zu kleinen Plattformen, von denen aus man das Donnern und Wogen der azurblauen Wellen unten an der Steilküste beobachten kann.
Jeden Morgen fahre ich mit dem Klapprad nach Amado, die zehn Kilometer hin und zurück sind eigentlich zu viel für den alternden Kinu, aber mit einer langen Pause an der Strandbar geht es so gerade noch. Nachmittags arbeite ich dann im Hinterhof vom Casa im Van und abends schaue ich nochmal in dem extrem gemütlichen Gastraum vorbei – harmonische, wunderbare Tage, in denen sich mein Auge an der Natur labt und von den Beton-Schrecken der Südküste erholt.
Wäre ich nicht Silvester auf der Quinta Alfarrobeira eingeladen, stünde ich wahrscheinlich immer noch dort: An der Straße, die zum Strand führt, wo man nachts das Krachen der Wellen gegen die Felsküste hört und morgens von dem eifrigen Hahn des Nachbarn geweckt wird.
Doch so fährt erst Kristina ab nach Spanien, dann schultert Svea ihren Rucksack und läuft los, weiter auf dem Fischertrail, und schließlich packe auch ich meinen Kram zusammen, drehe den Zündschlüssel um und nehme etwas wehmütig Abschied von der Costa Vicentina.
Ein berührender Beitrag, schöne Aufnahmen und viele Impulse zum Nachdenken, aber auch zum Träumen. Danke, Vanja!
Danke Dir, liebe Birgit! LG, Vanja