Albaniens Hauptstadt Tirana stelle ich mir als grauen, schmuddeligen, versmogten postsozialistischen Moloch vor. Aber da ich nach Elbasan will, für den Öl- und Filterwechsel in einer unter Travellern gut beleumdeten Werkstatt, komme ich eh durch Tirana. Die Schnellstraße zwischen dem größten Hafen Durres und der Hauptstadt Tirana ist sicher die Beste des Landes. Aber ach: Sie ist zwar zweispurig ausgebaut, aber in einem traurigen Zustand: Viele teils tiefe Schlaglöcher und Dehnungsrisse im Asphalt an den Brücken. Am Straßenrand stehen Männer und Frauen im Sonntagsstaat und warten auf den Minibus. Große Enttäuschung beim Blick auf die Preistafeln der Tankstellen: 180 Lek, fast 1,80 Euro? Du meine Güte. Wie machen die Leute das hier? Aber wie sich herausstellen wird, gibt es auch Albaner, die durchaus Geld haben. Oft hält an roten Ampeln der protzige Neuwagen als wichtiges Statussymbol neben dem Maultierkarren. Albanien ist ein Land im Umbruch, mit einer gewaltigen sozialen Kluft.
Die Autobahn schlängelt sich in sanften Kurven durch Tirana, ich steuere einen Parkplatz am westlichen Stadtrand an, neben einem Spaßbad („Auqadom“) und einem See mit Spazierwegen und Ufercafé. Als ich ankomme ist der Parkplatz noch fast leer. Ich stelle mich zu einem futuristischen Wohnmobil aus Südkorea mit Bullaugen, dessen Pilot seine Trinkwasserkanister auf einem Elektrotretroller zur nächsten Zapfstelle transportiert.
Gleich hinter dem Maschendrahtzaun wohnt eine Roma-Familie in einem improvisierten und vermüllten Zelt-Lager unter einem Baum. Der Balkan: Eine andere Welt. Unsicher fühle ich mich aber nicht mehr. Zumal der Parkwächter auch gleich freundlich auf mich zukommt: Klar könne ich hier übernachten, 500 Lek für 24 Stunden und es passt immer jemand auf, herzlich willkommen und viel Spaß in Tirana!
Nach dem Mittagessen lasse ich für Kinu alle Luken und Fenster auf, schließe Laptops und Festplatten im Schrank ein, schultere den Rucksack mit Bankkarten, Geld und Autoschlüssel und schwinge mich auf mein kleines rotes E-Klapprad.
Und traue meinen Augen kaum: Ich liebe es ja, wenn auf Reisen meine eigenen Vorurteile und Erwartungen kräftig gegen den Strich gebürstet werden. Tirana entpuppt sich als moderne, bunte, junge Stadt. Mit Radwegen, digitalen Ampeln, Vätern, die Kleinkinder im Buggy herumschieben, lila lackierten Fahrradparkplätzen und mindestens zwei Dutzend schicker neuer Hochhäuser im Bau.
Wer investiert hier – China? Wie nebenan in Montenegro, wo eine chinesische Staatsfirma für Millionen eine neue Autobahn gebaut hat? Der früher sozialistische Balkan als Einfallstor zu West- und Südeuropa ist ja ein wichtiger Bestandteil der neuen Seidenstraße Chinas.
In hunderten Straßencafés sitzen bei diesem Sonntagvormittag bei herrlichem Wetter ganze Völkerscharen. Viele haben kleine Rassehunde mit edlen Halsbändern und passenden Leinen dabei. Ich sehe nur einen einzigen Straßenhund. Der schläft in einem Park auf der frisch gemähten Wiese, während neben ihm eine Putzfrau in Kittelschürze den Plattenweg nass aufwischt.
Straßenmusiker spielen auf und überall stehen moderne Kunstwerke. Der Fluss Lana fließt quer durch die Stadt und am Horizont türmen sich Berggipfel. Ich staune. Und bin begeistert. Wie Palermo gehört auch Tirana zu den Städten, in denen ich mir vorstellen könnte, mal etwas länger zu verweilen.
Am zentralen Skanderbeg-Platz findet sich gleich neben dem Opernhaus ein internationaler Buchladen.
Warum Skanderbeg, frage ich mich, klingt skandinavisch. Ist aber eine Verballhornung von Iskander Bey: https://de.wikipedia.org/wiki/Skanderbeg
Es gibt durchaus einige Moscheen, aber nicht viele und von keinem Minarett ruft ein Muezzin zum Gebet. Schade eigentlich, ich höre das gerne. Aber Religion spielt in Albanien im Alltag kaum eine Rolle. Enver Hoxha hatte jegliche Religionsausübung verboten und Albanien 1967 zum ersten atheistischen Staat der Welt erklärt. Konflikte gibt es bis heute nicht: Die islamischen Gotteshäuser stehen friedlich Seite an Seite mit christlichen Kirchen.
Das Nationalmuseum wird schon mit EU-Mitteln saniert, obwohl Albanien seit fast zehn Jahren auf den Beginn der Beitrittsverhandlungen wartet. Rentner spielen gemeinsam Domino und Wäsche trocknet auf Leinen an der Hausfassade. Wer weiß wie lange noch. Albanien verändert sich derzeit dermaßen rasant.
Voll neuer Eindrücke zurück am Parkplatz erwartet mich eine Überraschung: Er ist plötzlich rappelvoll. Nebenan ist Kirmes, zu hunderten sind ganze Familien mit dem Auto gekommen, auch, um am See auf Decken lagernd zu picknicken. Der südkoreanische Camping-Kollege kommt kaum vom Platz. Vorher schenken mir seine süßen Kids noch zwei kleine Packungen Instant-Cappuccino zum Abschied. Dabei hatten er und ich nur ein paar wenige Worte gewechselt – nett.
Auf der Hunderunde unter violett blühenden Kirschbäumen um den idyllischen See macht Kinu Augen: Die halbe Stadt mit ihren etwa 600.000 Einwohnern ist auf den Beinen. Der 55 Hektar große „Tirana-See“ wurde im „Großen Park“ künstlich angelegt. Die Szene könnte auch in Berlin am Schlachtensee spielen. Von dem breiten Spazier- nebst Radweg, den vielen Bänken und sauberen Mülleimern könnte Berlin sich allerdings eine Scheibe abschneiden. Ministerpräsident Edi Rama war früher Bürgermeister von Tirana – ob es daran liegt? Dicke Männer in kleinen Karren verkaufen quietschbunte Zuckerwatte und Popcorn, Roma rösten Maronen und Sonnenblumenkerne über glühender Holzkohle.
Nach der etwa sechs Kilometer langen See-Umrundung ist der alte Hund fix und fertig. Zum Schluss schaltet er in den Wanderdünen-Modus. Ich lasse ihn im Wohnmobil, dank der sehr aufmerksamen Parkwächter ein paar Fenster für Durchzug geöffnet, und radele noch einmal in die Innenstadt. Dort ist in einem der abertausenden Bunker, mit denen Enver Hoxha das Land überzogen hat, ein Museum zur Geschichte des albanischen Geheimdienstes Sigurimi eingerichtet: Bunk Art 2.
Es ist einer der wenigen Orte im glitzernden neuen Tirana, an dem frau etwas über die Auswüchse der sozialistischen Diktatur erfahren kann. Dieser hier ist der ehemalige Atombunker des Innenministeriums. In den sollte sich die Regierung mitsamt Familienangehörigen im Falle eines Atomangriffs flüchten. Der aber nie kam. Genau so wenig wie die anderen Invasoren, von denen Hoxha sich umzingelt glaubte. Porträtfotos der Geheimdienstopfer hängen im Eingang an Decke und Wänden: Sie zeigen orthodoxe Priester, die nach dem Religionsverbot ermordet wurden. Eine Stimme vom Band nennt ihre Namen, damit sie nicht vergessen werden.
Die unterirdische Ausstellung zeig mit vielen Dokumenten und auch Fotos, Zeichnungen und Interviews, wie die Sigurimi das Volk bespitzelte, Kritiker in Lager sperrte. Wegen Sippenhaft verschwanden auch die Frauen und Kinder von Oppositionellen in Lagern.
Das ist einerseits sehr eindringlich. Andererseits fehlt die Anbindung an das Heute. Später lese ich, dass die Ausstellung konzipiert wurde, ohne die Opferverbände mit einzubeziehen. Trotz schätzungsweise 10.000 Todesopfern des Geheimdienstes und obwohl mehr als ein Drittel aller Albaner politisch verfolgt wurde steht es um die Aufarbeitung schlecht.
Den möglichen Grund nennt mir einer der ermutigend vielen jungen Albaner unter den Besuchern: Um die eine Million Albaner stets und ständig zu kontrollieren, habe die albanische Stasi ein riesiges Spitzelheer unterhalten. In einer zehnköpfigen Familie seien drei oder vier Sigurimi-Zuträger gewesen. Oft gezwungenermaßen, wie er erzählt: Die Sigurimi habe gedroht, den Kindern der Unwilligen etwas anzutun. Angesetzt auf ihre eigenen Angehörigen und Nachbarn hätten die Spitzel keine Wahl gehabt, meinte er. Man habe nicht nein sagen können.
Nach 1990 habe man den Sigurimi-IM dann kollektiv verzeihen müssen, denn sonst wäre die Gesellschaft implodiert, ein Zusammenleben nicht mehr möglich gewesen. Ob das so stimmt? Später höre ich oft, dass es noch einen anderen Grund fürs Totschweigen gibt: Dass nämlich die Mächtigen von damals und ihre Sippen heute immer noch im Hintergrund die Fäden der Macht in Händen halten. Zum Teil in zweiter Generation. So sei Ministerpräsident Edi Rama der Sohn eines engen Vertrauten des Diktators Enver Hoxha. Kritiker monieren, dass einige ehemals ranghohe Mitarbeiter der Sigurimi heute Mitglieder des Verfassungsgerichts sind. Daher fänden die Opfer kaum Gehör.
Hallo Vanja,
habe heute das Interview mit dir auf DF-Kultur gehört und mir danach gleich deine Blogs anschaut. Tolle Fotos. Schöne Erlebnisse. Mutig, nach Albanien, eine Region, in der es immer wieder mal kracht, zu reisen. Siehe die militärische Aktion vom 28.09.2023.
Trotzdem machen deine Reiseberichte Lust darauf, ebenfalls auf Tour zu gehen.
Schade, dass kein Foto von dem südkoreanischen futuristischen Wohnmobil zu sehen ist.
Da hat dein Jumbo vielleicht neben einem Le eleMMent Palazzo gestanden. Wahnsinn. Und das in Armenien. 😉
Weiterhin gute Fahrt und viel Spaß
Liebe Grüße
Mia
Liebe Mia, nee, so ein Riesen-Palazzo war das nicht, normale Größe. Die militärischen Auseinandersetzungen waren im Kosovo, es gab Ärger mit den Serben. Die Region der früheren Bosnienkriege kommt nicht zur Ruhe, da waren Serbien, Bosnien Herzegowina und Kroatien beteiligt. Albanien nicht. Dort ist es friedlich, da kannst Du unbesorgt hinfahren. Auch im Kosovo und Nordmazedonien sind viele Traveller unterwegs und begeistert. Man sollte sich halt vorher informieren wo und wann man am besten nicht hinfährt. Herzliche Grüße und danke für Deine Worte, Vanja