Nachdem ich von Bergamo nach Codogno durch endlose Kreisel gerollt bin, steuere ich von Mantua nach Venedig zum ersten Mal ganz bewusst die Autobahn an. An der Mautstelle gelingt es mir sogar relativ schnell zu begreifen, wie ich an ein Ticket komme. Das liegt auch daran, dass ein faustgroßer roter Knopf zu drücken ist: Das kapieren sogar Automatenlegastheniker wie ich. Die Autobahn ist ihr Geld wert: Super ausgebaut, ratzfatz ist man durch die Po-Ebene durch und die ersten „Venezia“-Schilder tauchen auf.
Ich fahre um die Neustadt auf dem Festland herum einen Bogen, durch ein ödes Hafengelände zum Campingplatz Fusina. Von dort aus kann man die Fähre zur Altstadt in der Lagune nehmen. Es ist schon fast Oktober: Fusina ist halb leer, frau kann sich hinstellen, wo sie möchte (muss aber auch auf Sahnetorten in Golfwägelchen verzichten).
Ich wähle einen Platz auf einer Wiese fast direkt am Wasser der Lagune. Dort drüben liegt das sagenumwobene Venedig, „La Serenissima“, die „Allerdurchlauchteste“, erbaut auf 100 sumpfigen Inseln, verbunden mit hunderten Brücken. Markusplatz, Dogenpalast, Seufzerbrücke, Kanäle, Gondeln: Die rotbraunen Dächer der einst mächtigen Seestadt funkeln am Horizont in der Sonne, die ab und zu durch die Wolken bricht. Aufregend! Und derzeit drängen sich hier keine Kreuzfahrtschiffe, die sonst die Luft verpesten, die Lagune belasten und mit tausenden Tagestouristen die Gassen verstopfen.
Schnell etwas kochen und dann ab zum Fähranleger: Venedig sehen. Das Boot tuckert über die Adrialagune, Kinu reckt die Nase in die Luft, schnuppert er die Millionen von Holzstämmen, die die Stadt im Lagunengrund verankern?
An den Docks vor der Altstadt liegt eine riesige Privatjacht, dann kommen uns die ersten Wasserbusse entgegen, die Anlegestelle Zattere nähert sich, die Fähre legt an, wir sind da!
.
Stunden lang laufe ich über Brücken, an Kanälen entlang, durch enge Gasen, über kleine Plätze. Es kommt mir voll vor, doch beim Rotwein in einer kleinen Bar erfahre ich, dass es sonst um diese Zeit 80 Prozent mehr Touristen sind. Wahnsinn.
Die Handwerker müssen ihr ganzes Geraffel über die Brücken schleppen…
Bis ins 16. Jahrhundert war Venedig eine der reichsten und wichtigsten Handelsstädte der Welt, bis Ende des 18. Jahrhunderts Hauptstadt der Republik Venedig, eine der größten Städte Europas. Heute leben von den 260.000 Venezianern rund 50.000 im centro storico. Erdrückt vom Massentourismus, doch der hat in diesem Jahr Pause.
Was soll man von Venedig erzählen? Alles ist gesagt: Das Leben findet auf dem Wasser statt, inklusive Umzüge, Post, Krankenboote, Taxis: alles schwimmt. Die Stadt ist in Stein gegossene Schönheit, ich weiß, dass sie totfotografiert ist, dass es alle diese Bilder schon gibt, doch ich kann nicht an mich halten. Da müsst Ihr jetzt durch oder runter scrollen.
Die Gondoliere finden die relative Ruhe in Venedig nicht so gut…
Niemand da, lohnt sich nicht…
Voller Eindrücke nehme ich eine der letzte n Fähren zurück nach Fusina, über die sich im Dämmerlicht verdunkelnde Lagune…
Abendstimmung in der Lagune von Venedig Campingplatz Fusina: Wassernah
Am nächsten morgen weckt mich ein Dröhnen: Es stellt sich heraus, dass der Campingplatz direkt neben dem Hafen liegt: Schlepper tanzen Wasserballett, große Pötte ziehen vorbei.
Hunderunde, Duschen, Kaffeetrinken und ab zur Fähre: Venedig zieht in den Bann, ich habe noch längst nicht genug gesehen, war gestern noch gar nicht am Canal Grande, habe ihn nicht auf der Rialtobrücke überquert und war noch nicht auf dem Markusplatz.
Außerdem bin ich auf dem Campo Santa Maria Formosa mit Ute verabredet: Sie hat hier in der Nähe eine Wohnung, führt Touristengruppen durch die Stadt und hat ein süßes Kinder-Fotobuch über Venedig gemacht. Wenn es nach den Umweltschützern geht, erzählt Ute bei einem caffe auf dem Campo, dann bleiben die dieselstinkenden Kreuzfahrtschiffe auch künftig weit draußen vor der flachen Lagune: Venedig ist für die Ozeanriesen nicht gemacht, die für sie ausgebaggerten tiefen Fahrrinnen verstärken die Strömungen in der Lagune, die Stadt hat von den Tagestouristen kaum etwas, die meist an Bord essen und trinken und höchstens mal ein Souvenir kaufen.
Während wir plaudern, dreht Kinu plötzlich durch: Erst Bergamo besichtigen, dann Mantua, jetzt latscht er schon den zweiten Tag an der kurzen Leine bei Fuß durch Venedig, es ist spätsommerlich warm, Tauben jagen darf er nicht – der Frust ist so groß, dass der sonst friedliche Hund sich aus dem Nichts auf einen pelzigen Artgenossen stürzt, der arglos vorbeiläuft. Gebell, Geschrei, Fellfetzen fliegen über den Campo, unseren Tisch reißt es fast um. Herrchen und Frauchen des Opfers sind entsetzt, was für eine Bestie ich da nicht unter Kontrolle hätte, sie schimpfen und sie haben recht, Erdboden tue dich auf! Gottseidank ist kein Loch in dem anderen Hund, alle drei gehen schließlich weiter. Es wird Zeit, die Zelte abzubrechen, Kinu muss mal wieder irgendwo freilaufen und Gas geben dürfen. Doch morgen einen Vormittag noch: Venedig!
Die Sonne kommt heraus und taucht die alte Stadt auf dem Wasser in grün-goldenes Licht.
Zurück an der Anlegestelle sinniere ich: Venedig ist wunderschön, doch wohnen wollte ich hier nicht: Die Gassen schmal und düster, die Kanäle grün und finster, die Wohnungen sicher dunkel, feucht und irrsinnig teuer. Und vor allem liegt über der ganzen Stadt eine melancholische Grundstimmung. Als wüsste „La Serenissima“, dass ihre Tage trotz Hochwasserschutz gezählt sind. Weil ihr eigenes Gewicht und das ihrer ruhmreichen Vergangenheit sie unaufhaltbar in den Schlamm der Lagune drückt.
0 Kommentare