Shkodra, die Metropole Nord-Albaniens, liegt am Skutari-See, dem größten See des Balkans. Zu einem Drittel gehört er zu Albanien, zu zwei Dritteln zu Montenegro. Die Grenze verläuft im See und das Nachbarland ist am Horizont schon zu sehen.
Ich werfe auf dem Campingplatz „Legienda“ Anker, der am Stadtrand an einem der drei großen Flüsse von Shkodra liegt, zu Füßen der großen mittelalterlichen Festung Rozafa. Sie thront auf einem Hügel, mit weitem Blick über Land, Flüsse und See.
Ein schönes Ziel für eine Hunderunde, zu Fuß ist man in 15 Minuten oben. Mit einem sehr alten Hund im Schlepptau in 25 Minuten.
In der Ferne, in der Stadt, ruft ein Muezzin zum Gebet – es ist der erste, den ich seit Jahren höre. Darum sei das Land noch nicht in der EU, meint ein etwa 35jähriger Albaner, der regelmäßig hier oben die Aussicht genießt: „In Brüssel mögen sie unsere Religion nicht.“
Am nächsten Tag bleibe ich bei Regen, Wind und Gewitter am Schreibtisch im Wohnmobil. Der Campingplatz organisiert Touren ins Gebirge, nach Teth und auf den Koman-Stausee. Muss traumhaft sein, aber leider ist es im April noch zu früh im Jahr, die Fähren auf dem wie ein Fjord lang gestreckten Koman fahren noch nicht und im Bergwander-Dorf Teth liegt noch viel Schnee.
Das erzählt mir Linda Nikai: Die Chefin hier und ehemalige Dozentin für Englisch an der Universität Shkodra. Sie kommt aus einer alteingesessenen Familie der Stadt, ihr Mann ist Künstler, Maler, und hat den Garten des Restaurants, das zum „Legenda“ gehört, mit Skulpturen gestaltet. Dort kann man lecker und günstig essen, Pizza zum Beispiel, aber auch typisch albanische Gerichte mit viel Fleisch.
Am Nachmittag radele ich in Regenjacke und -hose ein bisschen am Westufer des Sees entlang, zu einem kleinen Laden im Nachbardorf. Am Ufer liegen Boote im Regen, die vielen Restaurants und Bars sind alle geschlossen. Im Sommer muss hier viel los sein, wenn die Einwohner von Shkodra an lauen Abenden am Seeufer sitzen und gegrillten frischen Fisch essen.
Auf dem Campingplatz haben wir halbes Dutzend Camper viel Platz. Neben mir stehen drei junge Belgier in einem umgebauten Linienbus. Sie arbeiten auch von unterwegs, animieren Filme in ihrem „Studio Fluxi – Animation Studio on Wheels“. Ein nettes US-amerikanisches Paar erkundet Osteuropa mit Jeep und Aufstelldach – tapfer im strömenden Regen.
Am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne, auf geht es in die Stadt. Shkodra ist eine moderne Stadt, mit einem sanierten historischen Zentrum und hübscher Fußgängerzone, mit wie überall in Albanien unzähligen Cafés, auch Restaurants und schnuckeligen kleinen Hotels. Auch „Rossmann“, das „Dänische Bettenhaus“ und „Spar“ sind schon da. Ich habe nicht den Eindruck, dass Albanien die europäische Union braucht, um sich rasant zu entwickeln.
Hinter dem Supermarkt mit Preisen wie in Deutschland liegt das örtliche Roma-Lager: Die Angehörigen dieser vor 500 Jahren aus Nordindien eingewanderten Minderheit hausen hier in selbstgebauten Hütten aus Wellblech und Plastik, mit Eseln, Ponys und Ziegen. Sie arbeiten als Müllsammler und leben in schreiender Armut. Zwei süße, freche Roma-Mädels von vielleicht acht und zehn Jahren betteln vorm „Spar“ statt in der Schule zu sein. Nicht gut. Albanien: Land krassester sozialer Kontraste.
Und Albanien ist ein Land teils althergebrachter Rollenvorstellungen: Die Frisöse, die mir gekonnt für 500 Lek die Haare schneidet, leidet dabei fast körperliche Qualen: Frauen in Albanien trügen die Haare lang, erklärt sie mir immer wieder. Während ich darauf beharre, sie kurz tragen zu wollen. Extensions seien doch eine Möglichkeit lockt sie, im engen Oberteil mit Leopardendruck und Minirock. Nein danke. Mein Versuch, Trinkgeld zu geben, kommt auch hier schlecht an.
Bei einem Ehepaar in meinem Alter, das seine Gartenfrüchte auf einem Tuch am Straßenrand ausgebreitet hat, kaufe ich noch ein bisschen Gemüse. Sie erzählen mir von ihrer Tochter, die mit dem geliebten Enkelkind weit weg in Frankfurt am Main lebt. Auf ihrem Smartphone zeigen sie mir Videos, auf denen man Mutter und Kind im deutschen Winter im Schnee herumrutschen sieht. Tränen stehen ihnen dabei in den Augen, so sehr vermissen sie ihr Kind und das Enkelkind: Exodus der Jugend – Albaniens nationale Tragödie.
Am nächsten Tag radele ich an großen Moscheen vorbei noch einmal die Ausfallstraße in Zentrum zum Foto-Museum „Marubi“ in der Altstadt. Ich liebe ja Foto-Ausstellungen! Pietro Marubi war Italiener, Ende des 19. Jahrhunderts kam er durch Albanien, das damals von den Osmanen beherrscht wurde und ließ sich in Shkodra nieder. Eigentlich war er Maler und Architekt, experimentierte mit der damals neuen Fotografie und eröffnete Ende des Jahrhunderts ein Fotostudio.
Marubi und seine Frau konnten keine Kinder bekommen, er adoptierte darum die Söhne seines Gärtners und diese traten in seine Fußstapfen. Während der kommunistischen Diktatur musste die Familie ihr Archiv dem Staat überlassen, 500.000 Glasnegative geben Zeugnis von der Geschichte des Landes. Die Bilder blieben Gott sei Dank erhalten und Anfang der 2000er Jahre wurde dieses Museum gegründet. Die Sammlung Marubi untersteht nun im Kulturministerium und wird derzeit digitalisiert. https://marubi.gov.al/
Tags drauf geht es in die Berge. Linda hat mir einen günstigen Leihwagen vermittelt. Am Ostufer des Sees entlang tuckere ich mit der ollen Gurke bis zum Abzweig nach Tamaré und dann viele steile Serpentinen hinauf. Jambos 25 Jahre alter Kupplung mochte ich die Strecke nicht antun, wenn Leihautos für 20 Euro zu bekommen sind. Allerdings brennen im Cockpit des ebenfalls betagten Kleinwagens reichlich Warnlampen. „Not important“, whatsappt mir Verleiher Lindi: „Kannst du ignorieren“. Na denn.
Die Strecke führt durch eine beeindruckende, trockene, karstige Berglandschaft mit tief eingeschnittenen Schluchten. Freilaufende Kühe, Ziegen, Schafe und Esel tummeln sich nicht nur am Straßenrand, sondern auch mitten auf der Fahrbahn. Der von eifrigen, zottigen Hunden unterstützte Schäfer bedankt sich für Geduld, indem er seine rechte Hand auf die Brust legt, sich leicht verneigt und schüchtern lächelt. Eine Geste, die mich immer wieder berührt.
Wenn ich mir nun vorstelle, dass zum Beispiel Teth und Valbone noch drei Stunden weitere Fahrt tief in abgelegenen Tälern liegen – was für ein Land! Die Straße nach Teth wurde immerhin neuerdings asphaltiert, vorher kam man nur mit Geländewagen und Allradantrieb hin.
Tamaré entpuppt sich als netter kleiner Ort an einem grünblau dahin rauschenden Bergfluss, in dem ein halbes Dutzend Restaurants auf den Ansturm der sommerlichen Wandertouristen warten. Ich trinke in einer gemütlichen Bar einen Espresso, mache einen Spaziergang durchs Dorf mit Kinu, dann geht es wieder zurück zum Campingplatz, wo ich mich schon ganz heimisch fühle und mich mit Linda zum Interview verabrede.
Den Leihwagen behalte ich noch und holpere am nächsten Tag über ein magersüchtiges Sträßchen oberhalb des Shkodra-Sees. Es endet irgendwo im nirgendwo an der Grenze zu Montenegro. Autoverleiher Lindi wollte mich eigentlich begleiten und mir seinen Lieblingsort am Seeufer zeigen. Aber er musste dann überraschend zum Flughafen nach Tirana und einen Wagen dort abgeben. Ich kann verstehen, dass ihm die Gegend hier gefällt: Der Blick auf den See ist grandios, überall blühen Sträucher und Blumen, man kann sehr schön Spazierengehen und im Sommer auch Schwimmen.
Fünf Tage bin ich schon in Shkodra, es wird Zeit, nach Montenegro weiterzufahren. Vorher unterhalte ich mich noch mit Linda Nikai, als ehemalige Englisch-Dozentin spricht sie die Sprache fließend. Linda schwärmt von der Schönheit der Landschaft rund um ihre Heimatstadt Shkodra: Da seien nicht nur die drei Flüsse und der große Shkodra-See, in weniger als einer halben Stunde sei man auch an der Adria und deren wundervollen Stränden.
Albaner seien arm, aber reich im Inneren, meint sie. Ihre Landsleute seien sehr großzügig, hätten Humor, würden anderen gerne helfen, auch heute noch. Doch es bekümmert sie, dass so viele ihrer Freunde die uralte Stadt Shkodra verlassen und ins Ausland gehen: „Manchmal fühle ich mich allein und verlassen in meiner eigenen Stadt.“
Linda hat in Tirana studiert und gehörte Ende der achtziger zu den Demonstranten, die auf der Straße lautstark ihre Freiheit forderten und das Ende des kommunistischen Systems. „Viele sind im Gefängnis gelandet. Ich hatte Glück. Außer einem gebrochenen Arm ist mir nichts passiert.“ Denn damals war Enver Hoxha schon tot, er starb 1986. Danach habe das Regime die Zügel etwas gelockert, erzählt Linda. „Alle haben gewusst, dass es eigentlich schon vorbei ist.“
Als Teenager in Shkodra hörte sie wie so viele in dieser grenznahen Stadt im Norden italienisches Radio, liebte Rock&Roll, Jazz und Blues. Auf privaten Partys verhängte man die Fenster, tanzte zu der im isolierten Albanien streng verbotenen westlichen Musik und hoffte, dass man nicht an die Geheimpolizei Sigurimi verpfiffen wurde. „Untereinander haben wir uns vertraut“, sagt Linda. „Wir kannten unsere Spitzel.“
Damals fühlte Linda sich „wie in einen Käfig eingesperrt“ und träumte davon, das Land zu verlassen und die Welt zu sehen. Aber als die Wende dann kam, war sie 24 Jahre alt – und blieb: Ihr Mann erhielt Haus und Grundstück seiner Familie in Skodra zurück und sie eröffneten Restaurant und Campingplatz. „Wir entschieden uns zu bleiben und mitzuhelfen, das Land zu entwickeln.“
Der Übergang sei sehr schwierig gewesen und dauere immer noch an. „Nie hätte ich mir damals träumen lassen, dass wir 30 Jahre später immer noch damit kämpfen, dass die Leute nur noch weg wollen aus Albanien.“
Denn es ist ein wunderbares Land, nach den Wochen hier bin ich ganz verliebt. Schöne Natur gibt es auch in vielen anderen Ländern, aber die Menschen in Albanien sind so herzlich und gastfreundlich, so offen und interessiert – das findet man nicht (mehr) so oft. Trotzdem verstehe ich auch die jungen Leute, die voller Frust über ihre Perspektivlosigkeit und Zorn auf die allgegenwärtige Korruption Albanien verlassen, um ihr Auskommen anderswo zu suchen. Ich aber werde wiederkommen, möglichst bald, denn das alte Albanien verändert sich derzeit rasant.
Habe jetzt alle Artikel zu Albanien verschlungen und jetzt gilt „Wir müssen dorthin …“!
Lieber Rolf, unbedingt, ich bin auch bald wieder dort. Wünsche Euch eine wunderschöne Zeit. Wenn Ihr noch Fragen habt meldet Euch gerne. HG, Vanja
DANKE! Beim Durchlesen Deines Berichtes könnte ich wider den See und die Landschaft erleben. Wir waren 2017 dort unterwegs. bald wieder auf meinem Reiseplan….
Gern geschehen, das freut mich. Herzliche Grüße, Vanja