Nach Süditalien im vergangenen Jahr möchte ich diesmal in Andalusien überwintern. Ich hatte kurz an Griechenland und Kreta gedacht, wo dieses Jahr viele Winterflüchter hinfahren, auch, weil man in Südspanien und Portugal nicht mehr so gut freistehen kann. Aber vergangenen Winter im Salento, wo es wunderschön war, habe ich mit ein bisschen Neid das Wetter in Málaga beobachtet: Es war immer fünf Grad wärmer als in Italien. Hatten wir 15 Grad, konnte Málaga mit 20 Grad protzen. Für eine Frostbeule und Sonnenanbeterin wie mich ein Unterschied, der zählt. Also auf nach Spanien (denke ich, nicht ahnend, dass ich dort nicht wirklich ankommen werde).
Es ist Ende September, als ich mich auf den Weg zur Atlantikroute mache: Immer an der Nord-Westküste Frankreichs entlang, über Nordspanien und durch Portugal. Quer durch Frankreich und Spanien schnell ans Mittelmeer wäre der kürzere Weg. Aber das Wetter ist schön, ich habe es nicht eilig und ich liebe den wilden Atlantik. Also fahre ich „oben herum“. Was ich auch jedem nur empfehlen kann, der Zeit hat.
Von Luxemburg aus geht es ein kleines Stück durch Belgien an den Ärmelkanal, in Frankreich La Manche genannt: Der Ärmel. Ich stelle mir ein grau-bräunliches, nordseeähnliches Gewässer vor, aber es kommt ganz anders. Mit Blick auf Frankreich habe ich ein bisschen Bedenken, denn ich war vor Jahren mal ein paar Wochen für dpa in Paris und da haben sich die Leute als ziemlich biestig erwiesen, weil mein Französisch nicht perfekt war. Aber auch hier wartet eine Überraschung auf mich. Von Frankreich kenne ich außer Paris nichts. Die Normandie stelle ich mir wild und rau vor, die Bretagne eher lieblich – auch falsch, es ist genau andersherum, Reisen bildet.
Nach drei Stunden auf Autobahnen habe ich wie immer genug und halte bei Lille: Zum ersten Mal fahre ich mit France Passion einen Hof an: Das ist das Vorbild von „Landvergnügen“ in Deutschland und „Agricamper“ in Italien: Man zahlt eine Jahresgebühr von knapp 30 Euro, bekommt dafür einen Katalog und vor allem eine geniale App und kann bei Bauern, Winzern, Restaurants und Fischern eine Nacht umsonst stehen. Dafür sollte man dann einkehren oder im Hofladen einkaufen.
In diesem Fall ist es ein kleiner Milchviehbetrieb: ich sehe zwar die Kühe auf der Weide, aber sonst kein lebendes Wesen, also stelle ich mich erst einmal auf die Wiese nebenan und harre der Dinge. Anders als beim deutschen „Landvergnügen“ muss man hier in Frankreich nämlich nicht vorher anrufen und sich ankündigen, sondern man soll einfach kommen. Wenig später fährt die Chefin auf den Hof und ich kaufe im Lädchen Käse, Eier, Butter und Jogurt, Cidre und köstliches, hausgemachtes Pistazieneis.
Die erste Station an den 600 Kilometer langen Stränden der Normandie ist am nächsten Tag Le Tréport an der Cote d’Albatre (Alabasterküste): Schon eine halbe Stunde vor Ankunft sitzen jede Menge Möwen auf den Feldern. Der Stellplatz (in Frankreich hat jedes Dorf einen Platz für Camper, oft sehr schön gelegen, manchmal gratis: grandios) liegt malerisch auf einer der mächtigen Kalksteinklippen, in deren Schatten sich die Seepforte der Normandie kauert. Der Ärmelkanal überrascht mich mit leuchten grün-blauer, geradezu salentinischer Farbe.
Le Tréport verströmt den etwas morbiden Charme aller Seebäder in der Nebensaison. Ich bummele herum, bestaune Krebse und müde mit den Fühlern winkende Hummer, die lebend verkauft werden, esse Crepes und gönne mir zur Feier der Ankunft an der Küste eine Tüte Mandelplätzchen: Frau muss die Feste feiern, wie sie fallen. Es ist schön, wieder am Meer zu sein, seinem Rauschen zu lauschen und sein Salzaroma zu schnuppern.
Weiter geht es die Küste entlang nach Westen. Nächster Halt für eine Nacht: Veules-les-Roses, eines der schönsten Dörfer Frankreichs. Entsprechend voller Wohnmobile ist die große Wiese auf den Klippen. Früh am nächsten Morgen laufe ich mit dem Hund zum Strand hinunter, es ist Ebbe, ein gewaltiger Tidenhub hat den Meeresboden freigelegt. Darüber türmen sich die Steilklippen auf: Die White Cliffs of Dover gibt es auch auf dieser, normannischen Seite des Kanals. Ein beeindruckender Anblick.
In Étretat holt mich der Massentourismus ein: Es ist Wochenende und dermaßen voll, dass beim besten Willen kein Parkplatz zu ergattern ist, geschweige denn ein Stellplatz. Kurz behoste Menschenmassen schieben sich durch die Straßen: non merci. Ich übernachte ein paar Kilometer weiter auf einem kleinen Bauernhof und mache lieber einen schönen Spaziergang durch Felder und Wälder. Früh am nächsten Morgen sind die Parkplätze von Étretat bis auf ein paar noch schlafende Camper leer. So kann ich in Ruhe die berühmten Klippen bestaunen.
Hinter Le Havre würde die riesige Pont de Normandie über die Mündung der Seine führen, doch die kostet. Ich fahre mautfrei und mag auch keine hohen Brücken, muss aber überrascht feststellen, dass auf der alternativen Route durchs Hafenviertel die Straße plötzlich endet. Doch auch sonntags fährt die Gratis-Fähre und bald bin ich auf der anderen Seite des großen Flusses.
Diesmal gehe ich auf dem Parkplatz des Restaurants L’Entreport in Berville-sur-Mer zu Gast und schnabuliere dafür das günstige Menü. Die Franzosen mokieren sich gar nicht über mein eingerostetes Kindergarten-Französisch, sondern meinen charmant, ich spräche ihre schöne Sprache doch gut. Das stimmt nun nicht, aber wir können uns verständigen.
Am nächsten Mittag ist ein Stopp in Cabourg Pflicht: In diesem mondänen Seebad hat Marcel Proust (1871 – 1922) die Sommer seiner Kindheit verbracht und später Teile seines epochalen Werkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ geschrieben. Ich speise auf einem Strandparkplatz und erweise dem großen Autor dann zu Fuß die Ehre, mit einem Spaziergang bis zum Grand Hotel, in dem er seine Madeleines in den Tee tunkte. Jetzt muss ich die sieben Bände „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nur noch lesen…
An Caen vorbei geht es weiter, zur Apfelkellerei Le Tronquay in Campigny. Hier werden Calvados und Cidre gekeltert, für die die Normandie bekannt ist, aus eigenen Äpfeln natürlich. Ich übernachte hier, weil ganz in der Nähe Bayeux liegt, wo ich unbedingt ein weltberühmtes Kulturgut bestaunen möchte. Nicht zu sehen sind die Hofleute: Niemand da. Die Stellplätze unter Apfelbäumen sind liebevoll geschottert, ich richte mich ein und verbringe eine ruhige Nacht.
Am nächsten Morgen finde ich eine ältere Dame im Hofladen: Die Chefin ist mir geduldig bei der Auswahl von Apfelsaft, Cidre und einem kleinen Fläschchen Calva behilflich. Auf geht es nach Bayeux!
Nicht der hübschen, mittelalterlichen Altstadt wegen, auch nicht, um die Kathedrale Notre Dame zu schauen, 1077 eingeweiht: Nein, um den Teppich von Bayeux zu sehen, UNESCO-Weltdokumentenerbe der Menschheit. Ein wahrscheinlich von englischen Nonnen bestickter Tuchstreifen, mehr als 1.000 Jahre alt, fast 70 Meter lang. Er zeigt in Dutzenden kunstvoll gestickten Szenen die Eroberung Englands durch den Wikingernachfahren und Normannenherzog Wilhelm den Bastard, den man nach dieser Großtat im 11. Jahrhundert Wilhelm den Eroberer nannte.
Die Stickereien in Erdfarben leuchten bis heute und sind unglaublich detailreich: Sogar die Pferde besitzen ein Minenspiel. Sattel- und Zaumzeug, Kleider, Waffen, Schiffe und Segel: Alles ist überaus fein gearbeitet. Fotografieren darf man nicht. Unbedingt anschauen: Allein für diesen Anblick lohnt sich jede Reise in die Normandie!
Die Kriege unserer Zeit haben in der Normandie tiefe Spuren hinterlassen: In Bayeux sehe ich einen betagten US-Amerikaner, der mit seinem Enkel unterwegs ist, wahrscheinlich um die Stätten zu besuchen, wo ihr Vater und Großvater gekämpft hat und vielleicht gefallen ist. Auf dem US-Militärfriedhof an der Omaha-Beach steht um Punkt zwölf Uhr mittags eine amerikanische Schulklasse stramm, die Hände aufs Herz, und gedenkt der Gefallenen des D-Day am 6. Juni 1944.
Als Deutsche fühle ich mich nicht persönlich schuldig, aber traurig, dass mein Land so viel Leid in die Welt gebracht hat. Überall an der Küste hier werden verrostete Panzer ausgestellt und in den Andenkenläden gibt es Munition zu kaufen. Britische, französische, kanadische und US-Flaggen wehen gemeinsam mit den französischen Fahnen im Wind. Manch eine milde Seele hängt das deutsche Schwarz-Rot-Gold dazu. Als Symbol dafür, dass nach all dem Grauen und Gemetzel ein Neuanfang möglich war. Ich bin unter anderem deshalb so ein großer Fan der EU, weil die Union mit dafür gesorgt hat, dass es heute unvorstellbar ist, dass Frankreich und Deutschland Krieg gegeneinander führen.
An Utah-Beach vorbei fahre ich auf den Cotentin: Eine Halbinsel, mit der sich die Normandie in den Ärmelkanal schiebt. Eine ursprüngliche, windumtoste Gegend mit Sümpfen im Inneren und rauen Felsenküsten. Am Leuchtturm von Cap Lévi verbringe ich eine windige Nacht, parke spätabends nochmal um, drehe die Nase des Vans in den Sturm, damit er nicht ganz so arg durchgeschüttelt wird.
Die mondänen Seebäder mit ihren Villen scheinen hier weit weg. Größte Stadt des Cotentin: Cherbourg. Bekannteste Atommüll-Wiederaufbereitungsanlage: La Hague. Wer zum Teufel hatte in den 60er Jahren in Paris die Idee, das zweieinhalb Kilometer lange Monstrum mitten in diese idyllische Landschaft zu kloppen? Man dachte sich wohl, aus den Augen, aus dem Sinn.
Am Fuße des Cotentin (dessen Existenz mir vor dieser Reise gänzlich unbekannt war), übernachte ich mit France Passion bei einer Fischerfamilie in Gouville-sur-Mer. Und hier passiert es: Ich könne nicht bei der Familie Casrouge im Hinterhof stehen und keine Auster probieren, meint der Fischer nur halb scherzhaft. Seit Generationen züchten sie die Schalentiere in den Gewässern vor den Kanalinseln Guernsey und Jersey (wegen der Fangrechte gibt es seit dem Brexit jede Menge Ärger).
Schon zieht er einen Handschuh an, greift sich eine Auster, öffnet mit einem kurzen scharfen Messer ihre Schalen und hält mir das lebende (!) Tier vor die Nase. Augen zu und durch. Ich schlucke brav, denn einen Seebären beleidigen, das will man ja nicht. Erwartungsvoll starren mich alle an: Der Fischer, seine Mutter und die Mädels in Gummihosen, die gerade die Schnecken sortieren. Na – wie schmeckt es? Ist das nicht toll und mega-lecker? Dochdoch, köstlich, merci bien! Alle strahlen – und es ist nicht mal gelogen: Die Auster schmeckt nach Meer und mehr, wüsste ich nicht, dass ich ein lebendiges Wesen zerkaue – mit einem Schluck kühlen Weißweins wäre sie superb. Doch das Wissen verleidet mir den Genuss: Um meinen Passions-Pflichten nachzukommen kaufe ich nur ein Pfund Meeresschnecken und Krabben – und die sind schon vorgekocht und damit mausetot.
Die letzte Station in der Normandie ist der berühmte Mont St. Michel, UNESCO-Weltkulturerbe: Der Klosterberg einen Kilometer vor der Küste war früher nur bei Ebbe zu Fuß zu erreichen. 1877 hat man einen Damm gebaut, über den mittlerweile Shuttle-Busse Millionen Touristen zur Abtei fahren.
Das Wetter ist schlecht: Nebel und Regen, es ist wenig los. Ich strampele mit dem Klapprädchen auf die Insel und erklimme den Mont über nasse Kopfsteinpflastergassen und Treppenstufen. Links und rechts der Hauptgasse Restaurants, kleine Hotels und Andenkenläden: Den Rummel im Sommer möchte ich nicht erleben.
Es hätte auch eine mehrstündige Wanderung durchs Sandwatt hierher gegeben. Es wäre sicher ein eindrucksvoll mystischer Moment gewesen, wenn der Mont St. Michel schemenhaft aus dem Nebel auftaucht. Doch dazu war mir das Wetter zu schlecht: Klatschnass komme ich auf dem Campingplatz zurück und muss erst einmal mit den Nachbarn in ihrem muckelig warmen Wohnmobil ein paar Flaschen Cidre leeren.
Liebe Vanja, du machst so wunderbare Fotos…und es ist ein Genuss, deinen Blog zu lesen.
Danke. LG, Chris
Danke für die Blumen, liebe Chris, freut mich. LG, Vanja