An meinem ersten Tag in Portugal, am 8. November, hatte Gastgeber Hugo einen einzigen Ort an der Algarve empfohlen, den er mag: Fuseta. Die letzte authentische Ortschaft an der vom Massentourismus deformierten Küste, meinte er. Also auf nach Fuseta. Das Örtchen mit seinen weißen Schachtelhäusern macht einen arabischen Eindruck. Es liegt in der Lagunenlandschaft der Ria Formosa, mit vorgelagerten Inseln, hat aber auch einen kleinen Stadtstrand mit einer netten Bar.
Und einen Campingplatz, der proppenvoll ist mit Franzosen, die am Hafen fleißig Boule spielen. Daneben sitzen alte portugiesische Fischer und flicken in aller Seelenruhe ihre Hummerreusen. Ein sympathisches, entspanntes Dorf mit Markthalle und Fußgängerzone, in der kleine Restaurants ihre Tische auf das Trottoir gestellt haben. Also die zwei, drei, die in der Nebensaison geöffnet haben. Die meisten sind zu.
Etwas außerhalb von Fuseta haben Franzosen in einer ehemaligen Mandarinen-Plantage eine Art Hippie-Stellplatz gegründet: Die Chefin wohnt in einer Jurte, eine Handvoll Landsleute in teils sehr alten Wohnmobilen – schon jahrelang. Kein Wunder: es ist nett hier: Man steht unter Mandarinen-Bäumen, zahlt sieben Euro inklusive Dusche (etwas improvisiert, aber läuft) und kann so viele Mandarinen pflücken, wie man mag. Im Gegensatz zum Campingplatz unten am Meer ist hier oben nicht viel los: Vielleicht ein Dutzend WoMos, wenig Kommen und Gehen, die meisten sind Stammgäste.
Hier bleibe ich eine ganze Woche und freunde mich mit meinem Nachbarn Vincent an: Wir gehen wandern und diskutieren über alles und jedes. Vincent ist vor ein paar Jahren aus einem stressigen Job ausgestiegen, hat seine Firma verkauft, sich davon ein Wohnmobil zugelegt und ist Jahre lang durch Europa gereist. Jetzt macht er Pause im Paradies, wie er Portugal nennt. Vincent ist Franzose, spricht aber dankenswerter Weise nicht nur Portugiesisch, sondern auch sehr gut Englisch. Mit meinem Französisch ist es nämlich nicht weit her.
Als mir der Mandarinensaft schon zu den Ohren herauskommt, mache ich einen Ausflug nach Tavira, ein paar Kilometer weiter östlich. Ein entzückendes Städtchen, das sich in der Kunst der Azulejos-Fassaden übt. Am Stadtrand liegt ein kleines Castelo mit Garten.
Warum Tavira allerdings „Venedig Portugals“ genannt wird, erschließt sich mir nicht wirklich: Gut, der Rio Gilao fließt mitten hindurch, es liegt an einer Lagune, aber damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon.
Tavira besticht mit charmanten kleinen Geschäften und einer lässigen, leicht alternativ angehauchten Atmosphäre (letztere hat es mit dem Aussteiger-Hotspot Aljezur an der Westküste gemeinsam, habe ich mir sagen lassen). Der Stellplatz ist allerdings ziemlich grausam: Am Stadtrand lieblos direkt neben die Bahngleise gepflanzt, trotzdem in diesem Winter total überfüllt. Hier steht man in Reih und Glied und Tür an Tür auf Schotter, während die Züge quasi durch den Van rattern: Nichts wie weg!
Gerüchte gehen um, dass das Impfzentrum in Olhao hier an der Ostküste auch Ausländer boostert. Das ist nämlich schwierig geworden: Im neuen Jahr hat Portugal das zunächst großzügige Impfen gegen Covid auch von Überwinterern plötzlich gestoppt. Wahrscheinlich sind so viele von uns hier und haben die Impfzentren gestürmt, dass es den Portugiesen zu viel wurde. Impfstoff ist wohl genug da, doch nun versorgen sie damit nur noch die eigene Bevölkerung. Meine Zweitimpfung war aber im Juni, die Omikron-Welle steht ante portas und ich brauche neuen Schutz und für meine weiteren Reisepläne (Spanien, Frankreich) den QR-Code einer gültigen Impfung.
Also niste ich mich auf dem großen, dank vieler Pinien angenehm grünen Campingplatz in Olhao ein. Hier machen auch Tereza und Danny aus Berlin Station, die ich vergangenen Winter in Italien kennen gelernt habe. Kleine Welt.
Per Email an das Gesundheitszentrum der Algarve habe ich mir eine Numero Utente organisiert: Eine vorübergehende portugiesische Krankenkassen-Nummer. Damit solle ich in Olhao zum Centro de Saude gehen und mir einen Impftermin geben lassen, schreibt man mir aus Faro. Den Tipp mit der Krankenkassennummer habe ich aus Facebook, von Susanne, die witziger Weise auch Budde heißt und in Olhao im Wohnmobil lebt.
Gesagt, getan, das Klapprädchen auseinandergefaltet und gleich am nächsten Morgen zum Gesundheitszentrum geradelt. Aber ohweh: Dort regiert Suzanna, eine große, breite Krankenpflegerin, die vor meinen erstaunten Augen einen störrischen Getränkeautomaten mit einem rüden Fußtritt zur Räson bringt. Nein, wehrt Suzanna mein Begehr rigide ab: No way, locals only!
Ich solle mir eine Meldebestätigung besorgen, sonst gäbe es keine Impfung. Meine Numero Utente macht auf die Gestrenge ebenso wenig Eindruck, wie die Mails aus Faro in meinem Handy, das ich ihr vor die Augen halte. Die in Faro hätten keine Ahnung, klärt Suzanna mich auf.
Ich versuche es mit freundlichem Sit-In, worauf die Chefin auf den Plan tritt: High Heels, eleganter Kamelhaarmantel. Mein Argument, dass das Virus nicht nach meinem Pass fragt und ich dann wiederrum eine Gefahr für Portugiesen darstellen würde, verfängt auch bei ihr nicht: Das wisse sie, warum keine Ausländer geimpft werden dürften, könne sie mir auch nicht sagen, aber sie habe ihre Anweisungen. Zum Beweis wedelt sie mit der ausgedruckten Anordnung von ganz oben, aus Lissabon, keine Touristen zu impfen. Ich wittere eine Chance: Ich bin ja gar keine Touristin, erkläre ich, sondern Journalistin. Ich bin nicht in Rente, nicht im Urlaub, ich arbeite hier! Das zieht auch nicht. Die Chefin meint aber, ich solle nach der Mittagspause mal ins Impfzentrum beim Supermarkt am Hafen gehen. „Talk to the nurse“, meint sie.
Viel verspreche ich mir nicht davon, aber nach der Mittagspause eile ich zum Impfzentrum. Dort wacht ein schmucker junger Mann in Uniform der freiwilligen Feuerwehr. Zu meiner Überraschung meint er: „Sie sind die Journalistin aus Deutschland? Auf Sie warten wir hier schon.“ Ach, schau an. Da hat sich die Lady im Kamelhaarmantel wohl ans Telefon gehängt. Wieder erscheint eine Chefin mit strengem Blick: Ich solle eine Bescheinigung vom Arbeitgeber beibringen, dass ich hier nicht nutzlos herumhänge, sondern dienstlich tätig bin, dann bekäme ich die Impfung. Der Feuerwehrmann übersetzt eifrig ins Englische.
Dank einer lieben Freundin und Kollegin beim Deutschlandfunk und des Druckers der Campingplatzrezeption stehe ich am nächsten Morgen mitsamt Bescheinigung pünktlich wieder vor dem Impfzentrum. Diesmal werde ich eingelassen. Es entpuppt sich als große Turnhalle. Die Impferei ist generalstabsmäßig durchorganisiert, kein Wunder: Portugal ist Europas Impf-Meister. Wir ziehen eine Nummer, die verteilt uns per Computerbildschirm auf vier Empfangshäuschen: A bis D. Im Häuschen A sehe ich mit Schrecken ein bekanntes Gesicht: Die wütige Suzanna aus dem Centro de Saude! Au weia. Bestimmt lande ich bei ihr, denke ich mir. Nach kurzer Warteizeit erscheint meine Nummer auf dem Bildschirm – Häuschen A, war ja klar.
Doch als Suzanna mich sieht, lacht sie und alles ist gut. Freundlich plaudernd fragt sie mich, welchen Impfstoff ich schon intus hätte, aha, Biontech, dann bekäme ich das wieder. Gab es Nebenwirkungen, wenn ja welche? Fluchend trägt sie meine deutschen Daten in ihre portugiesische Gesundheits-Software ein, samt meiner portugiesischen Handynummer. Die braucht man nämlich: Zwei Wochen später kommt der Code per SMS, der den Weg zum PDF mit dem QR-Code des Booster bahnt.
Nach noch einmal kurzer Wartezeit empfangen mich eine freundliche junge Ärztin und eine fließend Englisch sprechende junge Krankenschwester und zack: landet die ersehnte Spritze in meinem Arm. Hurra!
Nach den obligatorischen 15 Minuten Wartezeit sause ich in den Supermarkt nebenan und hole an der Backwaren-Theke eine Riesentüte Pasteis de Nata und anderen Süßkram, den die Portugiesen so lieben. Die gebe ich beim Feuerwehrmann ab mit schönen Grüßen an Suzanna – ha, ihr Gesicht hätte ich gerne gesehen!
In Olhao löst sich auch das Hunde-Futter-Problem gänzlich in Wohlgefallen auf, das mit dem dann doch noch angekommenen Paket aus Deutschland schon entschärft wurde: Thomas und Maria kommen mit ihrem Camper aus Nord-Portugal und bringen einen 15-Kilo-Sack mit, den eine andere hilfsbereite Seele, nämlich Hubert, schon im PKW aus Deutschland mitgeschleppt hat. Hubert wiederrum ist ein bekannter von Alexa, die in der Nähe von Fatima wohnt und den Futtersack zwischengelagert hat. Alles klar? Manchmal ist Facebook wirklich ein soziales Netzwerk! Nun haben wir Vorrat bis in den Frühling.
Das muss gefeiert werden. Thomas und Maria mögen keine Campingplätze und ziehen weiter. Doch Susanne (Budde) und ihr Mann Martin sitzen immer gerne im Cafe Mercado an den beiden großen Markthallen, für die Olhao bekannt ist. Dort versammelt sich regelmäßig ein ganzes Grüppchen Expats, Deutsche und Niederländer, die ausgestiegen oder in Rente sind und die Sonne an Portugals Küste genießen.
Susanne und Martin waren in der Pharmaindustrie: Ein gutes Gehalt, aber viel Stress. Mit Mitte 40 hatten sie darauf keine Lust mehr und haben aufgehört zu arbeiten. Seit zwölf Jahren leben sie bescheiden und zehren von ihren Ersparnissen. Sie sind normalerweise im Winter in Südostasien, gerne Sumatra, aber das ging jetzt schon zwei Jahre lang wegen der Seuche nicht. So harren sie mit ihrem Mobil auf einem privaten Stellplatz in Olhao aus. An einem sonnigen Sonntag treffen wir uns auf dem Flohmarkt im Nachbarort. Hier brutzelt Jürgen „die letzte Bratwurst vor Marokko“.
Mit gefällt die Stadt richtig gut: Obwohl die Immobilienpreise wegen der vielen Ausländer hier auch durch die Decke geschossen sind, hat sie hat ihre Seele nicht dem Tourismus verkauft. In den Markthallen tobt das portugiesische Leben und der Fischereihafen ist einer der Größten im Land. Es gibt Fischkonservenfabriken, Chinaläden und den rauen Charme einer – wenn auch kleinen – Industriestadt.
Das Experiment mit der Frisöse für zehn Euro hätte ich allerdings lieber lassen sollen. Ich bin wirklich nicht empfindlich, was meine Haare angeht, aber meine mangelnde Begeisterung hat sogar die abgebrühte Coiffeuse mitbekommen: „You are not happy?“ Wächst ja wieder nach, habe ich geknurrt. Aber nein: Happy bin ich nicht. Also die nächsten zwei, drei Monate nur mit Mütze aus dem Chinaladen…
Auf dem Campingplatz trudelt eines Tages Henning Nehring ein. Langsam tuckert der 70Jährige heran, auf einem Moped, einen Anhänger hinter sich herziehend. Auf dem Anhänger seine selbst gebaute Schlafkabine. Henning stammt vom Niederrhein, ist verheiratet, hat vier Kinder und auch Enkel, ist gelernter Maschinenschlosser, war Polizist und Posaunist. In Portugal ist er gelandet, weil eine Fahrradtour ein wenig ausgeartet ist. Aber das kann er selbst besser erzählen:
Wie das benachbarte Fuseta liegt auch Olhao an der Formosa-Lagune. Dort gehen Flamingos (!) und Reiher ihrer stelzfüßigen Beschäftigung nach.
Mit Tereza und Danny mache ich einen Spaziergang entlang der Bahnlinie zu einem kleinen Lagunen-Strand und stelle fest: Es wird Frühling in Portugal. Mein zweiter Winter im Van neigt sich dem Ende zu.
In Olhao endet auch meine Zeit in Portugal. Eigentlich hatte ich ja in Andalusien überwintern wollen, aber dann bin ich hier hängen geblieben. Die Mentalität der Portugiesen hielt mich fest: Freundlich, zugewandt, offen und empathisch. Doch nun muss ich weiter: Bei einer Pressereise auf El Hierro, die kleinste (und für mich schönste) Insel der Kanaren, habe ich vor vielen Jahren Brigitte Kramer kennen gelernt. Sie lebt als freie Autorin auf Mallorca. Wir wollen zusammen ein Feature über die maurische Vergangenheit Andalusiens recherchieren. Und der Frage nachgehen, ob das Erbe von Al Andalus die heutigen Beziehungen Südspaniens zum Islam prägt. Brigitte und ich sind Mitte Februar in Granada verabredet. Also adeus, Portugal, auf Wiedersehen!
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