Kapitel 16, in dem die Heldin es schafft, den berühmtesten aller Alpenpässe NICHT zu finden – und trotzdem am Ende glücklich ihr Ziel erreicht

10. September 2020 | Italien, "Vanlife" - Licht und Schatten

Am 10. September stehe ich morgens früh auf, mit dem Sonnenaufgang, denn ich habe keine Lust, vor dem Gotthard-Tunnel in einem kilometerlangen LKW-Stau zu schmoren. So früh am Morgen ist es kühl auf der Nordseite der Alpen, die anderen Camper schlafen alle noch. Ein Cappuccino mit geschäumter Milch, das muss sein, Katzenwäsche und mit dem Hund eine Runde um den Parkplatz, dann geht es los zur Alpenüberquerung, die so viele schon vor mir unternommen haben: Zu Fuß, auf dem Pferderücken oder wie weiland Goethe in holpriger Reisekutsche.

Da habe ich es in meinem „Libertu“ bequemer. Kaum gestartet, bin ich auch schon am Grenzübergang in die Schweiz: Verwaist, kein Zöllner weit und breit. Also weiter auf die A 2, an Basel vorbei nach Süden. Die Schweiz habe ich mir anders vorgestellt: Sauber, ordentlich und aufgeräumt. Aber die Außenbezirke von Basel sind genau so schmuddelig wie die jeder anderen Großstadt. Und die Straße ist auch nicht im allerbesten Zustand: Tsts…

Je höher die Sonne steigt, desto kräftiger scheint sie. An Iltingen, Sissbach und Zunzgen vorbei geht es nach Süden. Es dauert etwas, bis die Alpen sich auftürmen, doch nach einer Stunde bin ich bei Luzern, in den Voralpen, die ersten Tunnel tauchen auf – und dann sehe ich ihn: den Vierwaldstättersee. Umgeben von steilen Bergen, aufgefächert in mächtige Fjorde, liegt er dort unten wie ein dunkelgrün in der Sonne glitzerndes Juwel, eingefasst von schroffen Granithängen. Geheimnisvoll, mehr als 200 Meter tief, so schön, dass ich spontan überlege abzufahren und ihn zu erkunden. Doch die Alpen liegen ja noch vor mir, ich fahre weiter.

Plötzlich trifft es mich wie ein Schlag: All diese Orte, von deren Existenz ich bislang nur theoretisch wusste: Es gibt sie wirklich. Und es ist ganz einfach, sie zu erleben, mit eigenen Augen zu sehen: Man muss nur ins Auto steigen, den Zündschlüssel umdrehen und losfahren. Ich bin tatsächlich unterwegs, ganz Europa liegt vor mir: Ein großes Glückgefühl durchströmt mich. Selten habe ich mich so frei gefühlt.

Ich muss an die Reise nach Mosambik 2018 denken: Nach drei Jahren in Brandenburg saß ich damals auf dem riesigen Istanbuler Flughafen und wartete auf den Anschluss nach Maputo. Um uns herum hastende Reisende aus aller Welt, Lautsprecher-Durchsagen riefen sie zu den Gates und ihren Flügen nach Seattle, Peking, Rom und Reykjavik. Das ich das sooo vermisst hatte, das Unterwegssein, dass der Rest der Welt mir schmerzlich fehlt, das ist mir damals klar geworden. Und nun bin ich hier und werde mich adlergleich auf die Gipfel der Alpen schrauben und die mir bislang weitgehend unbekannte Welt der Berge von oben betrachten können: Hurra!

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Letzte Raststätte vor dem Gotthard
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Schilder tauchen auf: Nur noch wenige Kilometer zum Gotthardpass und Gotthardtunnel. Doch was ist das? Die Ausfahrt nach Andermatt und zum Pass ist gesperrt: Baustelle. Während ich noch grübele, wie man denn jetzt da hochkommen soll, führt die A 2 durch einen kleinen Tunnel, DIREKT danach kommt nochmal eine Ausfahrt, ein winzig kleines grünes Schild: Gotthardpass. Die Ausfahrt ist kurz, noch kürzer gemacht mittels Baustellenkegeln. Soll ich? Ich müsste verdammt scharf bremsen, etwas, das keine Wohnmobilkapitänin ohne Rückspiegel gerne tut. Ich überlege eine Sekunde zu lange und wuusch: Vorbei ist es mit der Ausfahrt und dem Gotthardpass. Eine weitere kommt nicht, zwei Kilometer weiter finde ich mich plötzlich im Gotthard-TUNNEL wieder: verdammt!

Ich ärgere mich dermaßen, den Pass der Pässe verpasst zu haben, dass mir gar nicht auffällt, wie lang und für manche belastend der Tunnel ist. Mir machen die enge Röhre und der Gegenverkehr nichts aus. Ich fürchte mich in Tunneln nur, wenn sie unter dem Meer entlang führen, wie dieser Tunnel in Island, gleich hinter Reykjavik, Richtung Snaefellsness nach Norden: Den haben sie unter einem Fjord hindurch gebaut, steil geht es runter, meistens fährt man da auch noch ganz alleine herum, das ist fies: Millionen Tonnen Nordatlantik-Wasser über einem, allein in der funzelig beleuchteten Betonröhre, nach Lecks an der Decke Ausschau haltend….

Hier im Gotthardtunnel wirken nur die Schilder bedrohlich: „Bleiben Sie auf dieser Radiofrequenz!“, dreisprachig, alle paar Meter, immer und immer wieder. Ich überlege sogar, am Tunnelende zu wenden, zurück zu fahren und noch einmal zu versuchen, den Pass zu erklimmen. Aber das ist ja Quatsch: So schön ist das Wunderwerk der Ingenieurskunst denn doch nicht. Immerhin hat sich die teure Vignette damit gelohnt, tröste ich mich – und fahre weiter gen Italien.

Hinterm Tunnelende, wieder am Tageslicht, windet sich die Autobahn sanft durch die Ausläufer der Alpen: Mächtige Gipfel in meinen Flachland-Augen, grau, abweisend, steil und bedrohlich. Doch das Tal, durch das die Autobahn führt, ist grün, der Himmel blau – und plötzlich bin ich schon auf der Höhe von Lugano: Die einzige Gegend an den norditalienischen-schweizer Seen, die ich schon kenne. Keine Stunde mehr nach Como, doch mittlerweile ist es Mittag, der Magen knurrt dermaßen, dass ich an einer kleinen, ollen Tankstelle noch einmal Rast mache und gleich neben der Leitplanke auf den Gasflammen des Vans etwas koche.

Nebenan zischen die Autos vorbei, wir sind zwar noch auf den letzten Metern der Schweiz, aber es ist italienisch warm, fast 30 Grad, erst einmal Sommerklamotten an: Hurra! Dann weiter: durch Tunnel und über Brücken am Luganersee entlang, die Autobahnschilder werden grün und blau, plötzlich sind wir in Italien, unspektakulär, fast unbemerkt, aber lang ersehnt.

An Chiasso vorbei rollt „Libertu“ wie von selbst auf den Lago di Como im Tal zu. Da ist die Ausfahrt: Runter von der Autobahn, durchs Gewerbegebiet Richtung „centro“, Richtung See. Prima, dass das Navi alle Karten Europas in sich trägt, doch es weiß leider nicht, dass ich ein Wohnmobil fahre (bis es mir Wochen später in der Maremma geklaut wurde habe ich es auch nie geschafft, ihm das beizubringen) und lotst mich durch die engen Gassen und schmalen Sträßchen der Altstadt. Doch Dank Dieselgate in Saarbrücken bin ich mittlerweile kaltblütig, immer schön langsam, dann passt das schon irgendwie. Am Rand der Altstadt finde ich den Parkplatz mit den einigen wenigen Camper-Stellplätzen, der in diversen Apps aufploppt, parke, drehe den Zündschlüssel, der Motor geht aus: angekommen! In Bella Italia.

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